in

WAS IST MEINE SUPERKRAFT?

WORDS: SABINE KEISER

ALS ICH MICH MIT DER AUFGABE KONFRONTIERT SAH, EINEN ARTIKEL ÜBER „WAS IST MEIN SUPER-POWER?“ ZU SCHREIBEN, WAR ICH ZUNÄCHST EINMAL IN SCHOCKSTARRE.

Meine Super-Power??????? Was ist das für eine Frage? Was ist das für ein Thema??? – Kann ich dazu überhaupt etwas sagen?

Ich bin intelligent. Gut, das sind viele. Und viele wahrscheinlich noch viel intelligen­ter als ich. Ich spreche Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch. Vier Sprachen im­merhin. Latein habe ich auch noch gelernt und Italienisch verstehe ich. Gut, 4 Sprachen, mit etwas Goodwill vielleicht 6. Das können ande­re Leute auch. Und einige beherrschen mehr Sprachen und / oder kompliziertere Sprachen. Ich bin meistens gut gelaunt – sogar von an­steckend guter Laune. Das sind andere auch.

Was sind denn überhaupt Superkräfte? Unsichtbarkeit, Unbesiegbarkeit, Unverwund­barkeit, Fliegen können. Kann ich irgendetwas davon? Habe ich eine dieser Fähigkeiten? Nein. Und wer hat Superkräfte? Hulk, Super­mann, Spiderman. Kann ich mich mit einem von denen vergleichen? Haben wir etwas ge­meinsam? Nein. Ich bin definitiv kein Super­held mit Superkräften und bei genauer Über­legung möchte ich auch gar keiner sein.

Muss denn eine Superkraft etwas Einzig­artiges sein? Etwas, was nur ein Mensch sein Eigen nennt? Vielleicht hilft ein Blick ins allwis­sende Internet. Wenn ich nach Super Power suche, kommen als erstes politische Ergeb­nisse. Mir wird erklärt, dass Super Powers be­sonders mächtige und einflussreiche Staaten sind, sogenannte Supermächte. Gut, damit habe ich definitiv nichts gemein. Ich bin weder Staatsbürger eines solchen Staates noch lebe ich in einem solchen Staat.

LinkedIn bietet eine in meinen Augen re­alistischere Definition: „Jeder von uns ist mit besonderen Talenten geboren, die niemand sonst auf der Welt so ausdrücken kann wie wir. Diese angeborenen Fähigkeiten und Lei­denschaften sind unsere Superpower.“

Aha. Das klingt jetzt aber doch sehr ein­fach… Der eine kann gut schreiben, der ande­re kann gut rechnen, der Dritte ist handwerk­lich begabt und jemand viertes bastelt viel­leicht gerne. Und das alles sollen jetzt Super­kräfte sein, die man sich nur bewusst machen muss, um fortan ein glückliches und erfülltes Leben zu führen? Gewiss hilft es, beruflich etwas zu machen, was einem Freude berei­tet, einen „ausfüllt“. Aber das als Superpower zu bezeichnen erscheint mir jetzt doch etwas übertrieben.

Aber Moment, vielleicht ist es ja die Fä­higkeit zufrieden zu sein. Zufrieden zu sein mit dem, was man hat. Die Fähigkeit sich zu arran­gieren mit dem, was man hat. Die Fähigkeit, glücklich zu sein gar? Offensichtlich ist diese Fähigkeit ja nicht jedem gegeben oder bleibt vielen, die sie in sich tragen, verborgen. An­sonsten gäbe es ja nicht eine breite Fülle von Ratgebern zum Glücklichsein. Ist es also mei­ne Superkraft, dass es mir gelingt zufrieden, ja glücklich, zu sein? Möglich wäre es, aber… Ist es denn für mich nicht auch besonders ein­fach, glücklich zu sein, weil ich ja ein recht privilegiertes, sorgenfreies Leben führe? Und wenn etwas einfach ist, kann es dann über­haupt eine Superkraft sein? Nein, denn wenn etwas einfach ist, dann ist es ja nichts Beson­deres und eine Superkraft sollte schon etwas besonderes sein. Ist es dann für jemanden, der ein kompliziertes, schwieriges Leben führt, eine Superkraft, wenn derjenige die Fähigkeit hat, zufrieden und glücklich zu sein? Vielleicht. Aber mit dieser Frage schweife ich ab und ge­rate in philosophische Gefilde über das Glück.

Versuchen wir es doch einmal so: Ken­ne ich jemanden mit Superkräften? Gibt es Menschen, die ich für ihre Superkräfte be­wundere? Ja, ich kenne Menschen mit Super­kräften: Da ist eine Freundin, die Autorin ist, die Bücher schreibt. Dazu gehört viel Diszi­plin. Das bewundere ich. Ich bewundere aber nicht nur sie, die es geschafft hat, dass ihre Bücher veröffentlicht und gelesen werden. Ich bewundere auch die vielen anderen, die hartnäckig ihren Traum verfolgen, auch wenn deren Bücher vielleicht nie veröffentlicht und gedruckt, geschweige denn gelesen werden. Gerade laufen die olympischen Spiele in Paris im Fernsehen. Da vollbringen Menschen un­glaubliche sportliche Höchstleistungen, laufen oder schwimmen Weltrekorde, können fechten oder Judo und das besser als andere. Das bewundere ich auch sehr. Auch das braucht Disziplin und auch hier bewundere ich wieder die Disziplin, mit der diese Menschen ihre Zie­le verfolgen und Olympiasieger werden, eine Goldmedaille, Silbermedaille, Bronzemedaille gewinnen. Aber gilt meine Bewunderung nur den Siegern, hört sie hier auf? Nein, ich be­wundere eigentlich alle, die mitmachen, die sich qualifiziert haben. Auch das ist meiner Auffassung nach schon eine Superkraft. Ich bewundere aber auch die, die sich nicht quali­fiziert haben. Immerhin haben sie es versucht, sich bemüht, haben für ihr Ziel gekämpft.

Wenn ich nun aber die Stars der Olympi­ade bewundere und die, die keine Stars sind, wie kann sich dann im Olympiasieg eine Su­perkraft manifestieren? Wenn ich alle bewun­dere, die Bücher oder Geschichten schreiben, wie kann sich dann in einem Bestseller eine Superkraft manifestieren? Einfach, weil alle diese Leute etwas besser können als andere?

Dann wäre also das „Besser sein im Ver­gleich mit anderen“ die Superkraft. Finde ich das schön? Nein. Wettbewerbsdenken wider­spricht meinem Naturell. Möchte ich irgend­wo besser sein als andere? Nicht unbedingt. Ist es dann vielleicht meine Superpower, gar keine Superpower zu haben? Das könnte gut sein. Ich fühle mich ganz wohl, ohne irgend­welche Superkräfte zu haben, und ich kann auch nicht nachvollziehen, warum alle Leute immer meinen, Superkräfte haben zu müssen. Vielleicht zeichnet mich das aber auch einfach als Langweilerin aus.

Doch halt! Kaum, dass ich den letzten Satz gedacht und geschrieben habe, fällt es mir auf! Es gibt etwas, das bei mir anders ist als bei anderen. Bisher habe ich es immer für eine Schwäche gehalten, aber vielleicht ist ge­rade das meine Superpower: Ich bin absolut unfähig „nein“ zu sagen. Ich war unfähig „nein“ zu sagen, als ich gefragt wurde, ob ich diesen Artikel schreiben will. Und so geht es mir oft. Es scheint gerade so, als ob ein „nein“ in mei­nem Wortschatz nicht vorkommt. Das zeigt sich auch dann, wenn ich eine Fremdspra­che lerne: „Da“ ist „ja“ auf Serbisch, „evet“ auf Türkisch. „Nein“ fällt mir auf beiden Sprachen gerade nicht ein, aber ich brauche es ja auch nicht.

Und warum ist jetzt diese Unfähigkeit „nein“ zu sagen doch keine Schwäche, son­dern meine geheime Superkraft? Weil ich dadurch Dinge tue und kennenlerne, die ich sonst niemals kennengelernt oder getan hätte. Wie z. B. diesen Artikel über meine Superkraft schreiben. Dadurch dass ich nie „nein“ sage, wachse ich über mich hinaus. Und über sich hinauswachsen, ist ja wohl eine tolle Super­kraft!

ŠTA MISLITE?

BALANCING ROOTS AND WINGS